Werner knallhart
Quelle: dpa

Tempo 20, 40, 30 (bis 17 Uhr): Wie das Tempolimit-Chaos unsere Städte zerstückelt

Weil friedliches Fahren innerorts gesetzlich immer noch als Sensation gilt, wimmelt es mittlerweile an Schildern, dort wo es langsamer zugehen soll. Das verwirrt, sieht hässlich aus und ist teuer. Es gäbe ja eine Lösung...

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Wenn Sie mit dem Auto durch den Berliner Oranienkiez mitten in Kreuzberg kurven, brauchen Sie jemanden auf dem Beifahrersitz, der für Sie darauf achtet, wie schnell Sie gerade fahren dürfen. Denn das ändert sich auf den Straßen dort alle paar Meter und das kann sich kein Mensch merken. Man muss ja schließlich auch noch auf die Sicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer achten.

Fahren Sie etwa die Oranienstraße entlang, gilt Tempo 30. Nicht als Zone, sondern gekennzeichnet durch ein kleines rundes Schild mit rotem Rand (Zeichen 274) als Streckenabschnittsbeschränkung. Ein paar hundert Meter weiter, am Oranienplatz, gilt 50, aber nur für rund 200 Meter, dann gilt geradeaus wieder 30, biegen Sie links ein, gelangen Sie in eine 30er-Zone. Fahren Sie dort westlich, gelangen Sie entweder in eine Straße, in der Tempo 10 gilt, während nördlich eine 20er-Zone beginnt. Wären Sie vorher geradeaus gefahren, wären Sie aus der 30er-Zone herausgelangt, um dann rechts auf einer Strecke von rund zehn Metern 50 fahren zu dürfen, bis Sie dahinter direkt auf 30 ausgebremst werden, aber nicht als Zone, sondern jetzt mit Zeichen 274 mit der zeitlichen Beschränkung bis 17 Uhr mittels Zeichen 1040-30.

Aber gucken Sie nicht zu lange auf die Uhr, das lohnt sich nicht. Denn wenige Meter weiter steht „30“ ganz ohne zeitliche Beschränkung. Hinter einer Einbiegung hat man dann aber erst gar kein 30-Schild mehr aufgestellt, so dass die geschätzten 150 Meter bis zur Ampel im Grunde wieder 50 gefahren werden kann. Für dieses km/h-Chaos benötigen Sie Dutzende von Schildern, von denen eins mit Pfosten gut und gerne 150 Euro kostet (plus Montage und plus Reinigung in den Folgejahren).

Nun höre ich Sie schon mit dicker Halsschlagader ungebremst schreien: „Gut gewiehert, Amtsschimmel!“ Aber gemach! Die armen Schild-aufstell-Planer*innen können gar nichts dafür. Die müssen das so machen. Weil es das Gesetz so von ihnen verlangt.

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Zum einen sollen 30er-Zonen (also die mit den großen quadratischen Schildern Marke 274.1) grob gesagt nur in Wohngebiete rein. Diese zeichnen sich nach Dafürhalten der Gesetzeserfinder etwa dadurch aus, dass sich in ihnen keine Vorfahrtsstraßen befinden, also die mit dem Zeichen im Stil eines eckigen Spiegeleis (Zeichen 306).

Wenn, dann dürfen nur die dreieckigen Schilder sein (Zeichen 301), die uns Vorfahrt an der nächsten Einmündung einräumen. Aber auch nur dreimal hintereinander (außer, es verläuft eine Buslinie entlang dieser Straße). Sonst ist das ja Trickserei. Und Ampeln sollen auch keine in der 30er-Zone sein. Für 30er-Zonen sind Rechts-vor-links-Gebiete ein Paradies. Durchkreuzt eine Spiegelei-Vorfahrtstraße die Zone, muss diese an jener enden und direkt danach auf der gegenüberliegenden Straßenseite wieder beginnen.

Also Sie sehen schon: Die 30er-Zone kann nur dort hin, wo alles darauf hindeutet, dass keiner schnell da durchfahren will. Es zählt vorwiegend, was die Menschen in ihrer temporären Rolle als Autofahrende wollen.

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Und das gilt auch dort, wo 30 streckenweise gilt (rundes Zeichen mit 30 drauf). Einfach 30 vorschreiben, weil einen 50 irgendwie nervt, das geht nicht. Es muss schon einen Grund geben für mehr Verkehrssicherheit oder Ruhe, etwa wenn in der Nähe der Straße Schulen, Kitas oder Altenheime liegen.

Und jetzt kommt’s: Damit Schule und Altenheim nicht hinterlistig als Vorwand dafür genutzt werden, gleich kilometerlang den Stadtverkehr freundlicher für Radfahrer und Fußgänger zu machen, ist pro Anlass nach 300 Metern Schluss mit langsam. Danach muss es einen neuen Grund geben. Liegt die nächste Schule aber 400 Meter weiter, muss zwischendurch eine Höchstgeschwindigkeit von 50 gelten. Nicht selten mit dem Ergebnis, dass dieser Bereich nur wenige Meter lang reicht. Mit Schaltgetriebe bekommen Sie da eine Sehnenscheidenentzündung.

Und zu guter Letzt gibt es als Gipfel des 30-nur-da-wo-es-sich-wirklich-nicht-verhindern-lässt-Heckmecks die Konstellation, dass die 30er-Zone an einer Vorfahrtsstraße enden muss, die ihrerseits aber einen 30er-Streckenabschnitt an dieser Stelle aufweist. Mit an-deren Worten: Die 30er-Zone wird für eine 30er-Strecke unterbrochen. Mit Zonenbeendigungs-Schild (quadratisch) plus Streckentempobeschränkungs-Schild (rund).

Das alles ist teuer, verwirrend und sieht auf eine spießige Art regulierungswütig aus. Der beschränkte Horizont der Gesetze beschränkt sozusagen uns allen auf der Straße den Horizont.



Es gäbe eine Lösung gegen diesen Schilder-Wahn: Eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 Stundenkilometer innerorts außer auf großen Verkehrsadern.

Der ADAC rechnet vor, dass etwa in München bereits auf über 80 Prozent der Straßen Tempo 30 gilt. Kritikern von 30 innerorts dient das als Argument zu sagen: „Was wollt ihr mehr?“ Antwort: weniger Regelungschaos. Wenn schon 80 Prozent der Straßen 30er-Bereiche sind, dann können wir nur erahnen, wie viele Schilder abmontiert werden könnten, wenn generell 30 gälte und nur die Hauptverkehrsadern mit 50er-Schildern bestückt werden müssten.

Die Stimmung könnte kippen. Einer Initiative von sieben deutschen Kommunen für ein generelles Tempolimit von 30 innerorts mit der Möglichkeit, 50 streckenweise zu ermöglichen, wird mittlerweile von über 100 Kommunen in Deutschland unterstützt.

Der ADAC warnt zwar, dass Tempo 30 außerhalb von Wohngebieten die Autofahrer dazu verleiten könnte, ausgerechnet durch die Wohngebiete zu fahren, weil es dort ja auch nicht langsamer voran ginge, aber das ließe sich ja einfach verhindern: durch Kiez-Blocks, wie sie in Barcelona und mittlerweile auch in deutschen Städten immer häufiger vorkommen. Die Verkehrsführung wird so angepasst, dass Wohngebiete eben keine Parallelen zu den Hauptverkehrsadern bieten, sondern dass wir im Auto immer wieder auf die Ausgangsstraße zurück gelangen, was solche Fahrten zu Umwegen macht und nur noch für Anlieger sinnvoll ist.

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Generell Tempo 30: Das heißt nicht, dass wir plötzlich nachts um 3 Uhr auf vierspurigen Straßen in Gewerbegebieten mutterseelenallein 30 fahren müssen. Sondern es bedeutet weniger Rechtfertigungsdruck für den Wunsch nach Entschleunigung dort, wo Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer sich den Raum teilen. Ja, Raum. Weil Straßen wieder zu Lebensraum werden. „Mehr Lebensqualität“ wäre dann ein Grund für Tempo 30, ohne dass man den noch lange vor Gerichten durchboxen müsste.

Und es bedeutet: weniger Schilder. Bundesverkehrsminister Volker Wissing hat ja jüngst erklärt, das Tempolimit auf der Autobahn würde am Mangel an Verkehrsschildern scheitern. Das generelle Tempo 30 innerorts dürfte ihm da ja aus der Seele sprechen.

Unser Kolumnist Marcus Werner schreibt über die alltäglichen Nebensächlichkeiten in der Wirtschaft, die es wert sind, liebevoll aufgeblasen zu werden. Den Autor erreichen Sie auch über LinkedIn.

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